THIS IS NOT A PHOTO TEIL II

– Projekt Fotografie 2021

 

22 Oktober 2021 bis 4 Januar 2022

 

Esther Adam

Miia Autio

Ulli Bomans

Sara Förster

Hawoli

Marikke Heinz-Hoek

Isolde Loock

Hassan Sheidaei

Sandy Volz

Rie Yamada

Fotos: Galerie MItte /  LukasKlose

Ab Oktober 2021 zeigt die Galerie Mitte eine Ausstellung zum Thema Fotografie als Material in der Bildenden Kunst. Es handelt sich dabei um eine Weiterführung der erfolgreichen Ausstellung THIS IS NOT A PHOTO von 2019. Im Format einer Gruppenausstellung eröffnen die Positionen von zehn Künstler innen unterschiedliche Perspektiven auf den künstlerischen Umgang mit Fotografie und zeigen ein Spektrum der Thematisierung ihrer Materialität und Medialität. Die Vorstellung von Fotografie als selbstbezügliches Abbildungsmedium wird dabei befragt und ihr Potenzial als selbstreflexives Medium deutlich. Die eingeladenen Künstler innen, deren Ausstellungsbeiträge im Kontext des aktuellen Weltgeschehens und dessen bildbasierter Berichterstattung eine große Aktualität aufweisen, kommen unter anderem aus Bremen, Berlin, Finnland und Japan.

 

Fotos: Galerie Mitte / Lukas Klose

Esther Adam: Esther Adam verfasst sprachliche und zeichnerische Analysen, die sie mit transparentem Gel auf Glasflächen anbringt. In ihren filigranen, bisweilen kaum sichtbaren Arbeiten beschäftigt sich die Künstlerin häufig mit der komplexen Wechselbeziehung des Einzelnen zu seiner persönlichen und gesellschaftlichen Umgebung. Die betrachtende Person muss sich vor der Glasfläche selbst immer wieder neu positionieren, seine/ihre Perspektiven ändern – sonst verschwindet das Gesehene.

 

Miia Autio: Bei den Fotografien von Miia Autio handelt es sich um Porträts einer Minderheit, einer Gruppe von Menschen mit Albinismus, die unter den Mythen leiden, die sich um ihr Erscheinungsbild ranken und unter den damit verbundenen Diskriminierungen. Die gezeigte Arbeit beinhaltet außerdem die kurze Dokumentation MISS ALBINO. Auch diese zeigt junge Frauen mit Albinismus, ihre Träume und ihren Kampf um Akzeptanz und Gleichberechtigung. Auf der formalen Ebene beschäftigt sich die Arbeit mit der Beziehung von Bild und Realität. Die Fotografie ist niemals Abbild der Realität, sondern entsteht aus der Synergie von Wahrnehmung und Interpretation. Die Subjektivität des Blicks wird deutlich, wenn ein zunächst als Realität wahrgenommenes Bild als etwas anderes enthüllt wird. Bei den Fotografien dieser Arbeit handelt es sich um die Negative der originalen Bilder. Bei einem flüchtigen Blick bestätigen diese den ersten Eindruck der Betrachter:innen, den die äußere Erscheinung des Dargestellten erweckt. Die Logik des umgekehrten Bildes erschließt sich erst nach einer genaueren Untersuchung. Zusätzlich wird das ursprüngliche Bild durch eine optische Illusion sichtbar; wenn sich die betrachtende Person dreißig Sekunden lang auf den roten Punkt konzentriert und anschließend den Blick auf eine weiße Fläche richtet, kann sie durch den Nachbildeffekt ein imaginäres Bild in den Komplementärfarben erzeugen.

 

Sandy Volz: Aus aktuellen Fotostrecken internationaler Modemagazine wie Quest, Hunger und Self Service schneidet Sandy Volz Fragmente von Haut, Haar und Textilien aus und schichtet sie zu Reliefcollagen. Diese zentriert sie auf weißer Fläche und fotografiert sie mit Schattensetzung ab, wodurch der Eindruck physischer Präsenz verstärkt wird. In Becoming beschäftigt sie sich mit der Erzeugung von Fantasie und Begehren. Sie untersucht die Zusammenhänge von Reduktion und Fülle und geht der Frage nach, wie durch das Zerlegen und die Entkörperung der Motive des Ausgangsmaterials anhand von Abstraktion und Verdichtung neue sinnliche Körperlichkeiten entwickelt werden können. Konzeptuell schließt sie mit diesem Projekt der Dekonstruktion und Neubestimmung an queer-feministische Praktiken der Aneignung und Umdeutung an.

 

Isolde Loock : In ihrer Arbeit MayVOGUE – „unverkäuflich“ von 2020 entwickelt Isolde Loock ein Magazin nach einem streng konzeptuellen Vorgehen: sie paart eine Ausgabe des Männermagazins Mayfair von 1976 mit der von Katharina Grosse kuratierten Ausgabe des Frauenmagazins Vogue vom Januar 2020, indem sie die beiden unterschiedlichen Formatgrößen auf A-4 vereinheitlicht und sie einer gemeinsamen Bindung unterzieht. Dabei ersetzt sie jedes zweite Blatt der Vogue mit einem Blatt der Mayfair. Durch diesen formalen Kunstgriff ergeben sich per Zufallsprinzip Seitenkombinationen, die Text und Bild beider Magazine in eine neue Anordnung überführen. So entstehen Gegenüberstellungen und teils überraschende Blickbeziehungen, die die Betrachter:innen einladen sich spielerisch auf diese Verbindungen einzulassen und ihren eigenen Blick zu reflektieren. Im formalen Spiel verknüpft Isolde Loock hier Fragen nach der Wechselwirkung von Porno-, Werbe-, Kunst- und Modeindustrie und öffnet damit einen kritischen Reflexionsraum.

 

Marikke Heinz-Hoek: Das Werk der Bremer Künstlerin ist umfangreich und umfasst viele mediale Ausdrucksformen. Neben Film und Video nehmen Zeichnungen darin einen beträchtlichen Raum ein. Dabei sind die Landschaftsbilder von Heinz-Hoek meist aus dem Gedächtnis geschaffene, mit wenigen schwarzen Strichen gesetzte Szenen auf Bildträgern aller Arten. Dazu zählt auch die seit 2015 entstehende Reihe „STARDUST“. Hier verwendet die Künstlerin Weltraumfotos der Nasa, auf die sie unter anderem die Landschaft ihrer ostfriesischen Heimat zeichnet. So entstehen Szenen fast schon apokalyptischen Ausmaßes, in denen der Himmel über im Wind gebeugten Bäumen und kargen Feldern ein noch unbekanntes Unheil ankündigt. // Mareike Bannasch

 

Rie Yamada: Ich habe 5 deutsche Familienalben auf Flohmärkten in Berlin und 5 japanische Familienalben auf Online-Auktionen erworben. Voraussetzung war, dass sie mehr als 100 Fotografien der Familie enthalten, damit ich den familiären Hintergrund wie Familienstruktur, Zeit und Ort vollständig nachvollziehen kann. Ich wählte 1-2 Fotos von jeder Familie aus, bei denen sichtbar war, dass die Personen bewusst fotografiert wurden – Fotos, auf denen sie zu sagen scheinen: "Das ist meine Familie", "Das ist wer ich bin". Ich suchte nach Kleidung und Gegenständen, die denen auf den Originalfotos so ähnlich wie möglich waren. Manchmal habe ich die Kostüme und Requisiten auch selbst angefertigt. Ich schoss die Fotos, während ich jede Rolle selbst spielte – in Studios, an ähnlich aussehenden Orten und manchmal sogar genau an dem Ort, der auf den Originalfotos zu sehen ist. (…) Das Fundament einer Familie besteht aus Geschichten, die auf Erinnerungen aufbauen. Außerdem ist der Begriff einer Familie historisch und kulturell universell. So spiegeln selbst Familienfotos von völlig Fremden die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen der Betrachter:innen wider und wecken Nostalgie und Empathie. Familienfotos, die in einem Fotostudio aufgenommen wurden, Schnappschüsse, die ein Familienmitglied mit einer Kompaktkamera gemacht hat und andere Fotos, auf denen nicht nur Familienmitglieder zu sehen sind, sondern die eine Vielzahl von Menschen Verwandten, Freund:innen, Klassenkamerad:innen und Kolleg:innen zeigen, werden sorgfältig auf den Seiten der Familienalben angebracht. (…) Heute ist das Fotografieren zu einem individuellen Akt geworden und Familienfotos werden nur noch selten in einem Familienalbum gesammelt. Das fotografische Interesse hat sich auf die eigene Person und auf Fotos aus dem täglichen Leben verlagert. Dennoch müssen wir weiterhin Familienfotos machen. Fotografien stärken die Kontinuität und die Verbindung der Familie als Gruppe und verankern sie mit Hilfe eines visuellen Bildes. Vielleicht ist es nur eine vorgetäuschte Familie. Aber vielleicht wird die Familie durch das Fotografieren zu einer Familie. Die Fotos sind ein Beweis für unsere Existenz. Ich schleiche mich in ihre Geschichten, um Teil der Familie zu werden. Die Geschichten dieser Familien verweben sich mit Erinnerung und Vergessen, mit Fiktion und Realität. Dieses Projekt erweckt die Familienfotos wieder zum Leben, die einst zurückgelassen wurden. /Rie Yamada

 

Ulli Bomans: Auf den beiden Festivals Off The Radar und Fusion 2019 fotografierte Bomans etwa 60 Menschen aus seinem Freund:innen- und Bekanntenkreis. Die Portraits wurden daraufhin  in verschiedenen Sättigungs- und Schärfestufen gedruckt und die Collagen-Serie „Face it“ daraus erarbeitet. Die Darstellung der Portraits bedient sich der Ästhetik der abgerissenen Plakatwände. Die Geschlechtsspezifität löst sich durch die Durchmischung der Portraits zunehmend auf.

 

Sara Förster: Das Künstlerbuch "monochrom" basiert auf der künstlerischen Recherche zu analogem schwarzweiß Fotopapier. Die Fotografien zeigen das Material im Prozess der Veränderung. Entgegen der üblichen Handhabungen wird das Fotopapier absichtlich dem Licht ausgesetzt. Im Laufe der Zeit tritt eine farbliche Veränderung ein. Was als Fehler gilt, wird stattdessen zum Inhalt der Arbeit gemacht. In immer neuen Kombinationen zeigt sich die Vielfalt der Farben des Mediums, dass wir nur in Grautönen kennen. Die Fotografien changieren zwischen abstrakten graphischen Farbflächen und Momenten, in denen sich das Papier als solches erkennen lässt. Seiner ursprünglichen Aufgabe enthoben, nämlich ein Abbild wiederzugeben und als Trägermaterial in den Hintergrund zu treten, wird das Fotopapier selbst zum Bildinhalt.

 

Hassan Sheidaei: An einem Herbsttag entdeckte Hassan Sheidaei direkt neben einer stark befahrene Straße ein einzelnes Laubblatt, das sogleich seine Aufmerksamkeit fesselt. Unbemerkt von den vorbeihastenden Passanten scheint das welke Blatt in der Luft zu schweben. Anstatt langsam zu Boden zu gleiten und sich zu all den anderen hellgelb ausblickenden Blättern zu legen, wird es vom Wind immer wieder ruckartig emporgehoben. Ein für die Kamera nicht sichtbarer Spinnenfaden bewahrt den Moment, das Hin- und Hertänzeln, als wäre es ein lustvolles Spiel. Der bisweilen ohrenbetäubende Verkehrslärm und das Bremer Stadtamt im Hintergrund mit den vielen Menschen, die hastig ihre Behördengänge erledigen wollen, bilden dabei das zufällige Setting. Mit ruhigen, unprätentiösen Einstellungen führt Sheidaei beispielhaft vor, wie allein durch die Anschauung und die damit verbundene Aufmerksamkeit Gewöhnliches in Kunst verwandelt werden kann. Es geht ihm dabei nicht um eine verträumte Poesie des Alltags oder eine bloße Ästhetisierung der Dinge, es geht um Grundsätzliches: er macht ein ästhetisches Potential sichtbar, das uns in die Lage versetzt, unsere Umgebung als veränderbar zu erleben. // Ingo Clauß

 

HAWOLI: Die fotografisch dokumentierten Besuche von Steinbrüchen, die sich aus der Arbeit mit verschiedenen Gesteinen und dem Erkunden ihrer jeweiligen Eigenschaften notwendig ergaben, lassen einen erweiterten Blick in HAWOLIs ästhetischen Gestaltungsraum zu. Jene im Steinbruch gefundenen Ansichten von Schnitt- und Sprengflächen des Berges offenbaren die dem Gestein innewohnenden Strukturen, legen dessen unsichtbare Verwerfungen offen. Verwerfungen im Bruch sind – geologisch gesehen – kristallisierte Erosionen, somit Filmstills der Erdgeschichte. Und HAWOLI hält drauf auf die fließenden Bewegungslinien, auf die schroffe Ästhetik des  kargen Steins. Seine Faszination an der gestalteten Schönheit durch die Natur wird hier flankiert von der damit stets zusammenhängenden Zerstörung des Habitats durch den Menschen. Beide Blickwinkel zusammengenommen zeigen dem Betrachter also eine ambivalente Schönheit dieser kristallinen Wunden auf Büttenpapier. Mit flüssigen, teils eingefärbten lichtempfindlichen Emulsionen wird selbst Marmor wie Fotopapier belichtet und fixiert. Wenn er seine Fotografien des größeren Zusammenhangs so auf dem Bildgeber fixiert, wird der Stein selbst zur Projektionsfläche seiner ihm eigenen Geschichte. Darüber hinaus setzt der stets manuell gestische Eingriff gezielt malerische Impulse und prägt die Fotoarbeiten – quasi als Hommage an den jeweiligen Bildgeber – zu Unikaten. Die auf diese Weise entstandenen fotografischen Momentaufnahmen sind somit nicht nur Dokumente der menschlichen und erdzeitlichen Arbeitsgeschichte, sondern auch vielfältiger Dialog. // Mario Fuhse